Ein Mann, ein Zelt, ein Fahrrad. Teil 7: Freibeuter der Provence
Jörgs Reise geht weiter, durch Frankreich an die spanische Grenze. Wenn Du inteesse an schönen Aussichten und tolle Camping Möglichkeiten hast, ist diese Etappe das Richtige.
Vorurteile sind zwar immer falsch, aber sie entstehen nie aus dem Nichts. Ich kannte die Quellen meiner (unfreiwilligen) Voreingenommenheit gegenüber Festlandfrankreich recht genau. Zum einen gibt es im Netz, das ich vor meiner Abreise zwecks rudimentärer Landeskunde durchstöbert hatte, zahlreiche Aussagen in (Rad-)Reiseforen, die dem Land und speziell dem Großraum Marseille eine hohe Kriminalitätsrate attestieren. Beispielsweise kursierten Berichte über maskierte Räuber, die nachts Wohnmobile auf Campingplätzen und Autobahnraststätten überfallen.
Zum anderen wurden meine Recherchen von einem Erfahrungsbericht (aus zweiter Hand) eines schweizerischen Radreisenden ergänzt, der des Öfteren von Anwohnern, teils mit Knüppeln, verjagt wurde, als er sein Nachtlager aufschlagen wollte. Man kombiniere das mit dem allgemeinen Vorurteil, dass die Franzosen Deutschen gegenüber eher reserviert sind, füge noch negative Aussagen meines Radführers über Straßenbeschaffenheit, Windverhältnisse und Autofahrermanieren hinzu und man erhält einen wenig attraktiven Mix für eine knapp 400km Radtour von Marseille zu den Pyrenäen.
Werden sich die Vorurteile bestätigen?
Generell versuche ich, sowohl (negative) Vorurteile als auch positive Erwartungen an ein Land oder Ereignis klein zu halten, denn wer keine hat, ist nicht voreingenommen bzw. kann nicht enttäuscht werden. Doch als ich es mir auf dem roten Teppichboden des Aufenthaltsdecks der Fähre von Korsika nach Marseille für die Nacht bequem machte, kam ich gegen gewisse Befürchtungen nicht an. Allen voran die Frage, ob ich unbeschadet und vor allem unbestohlen durch und aus Marseille kommen würde.
Menschenleeres Marseilles
Stetig schwindende Vorurteile
Die Fähre öffnete pünktlich ihren Rumpf und spuckte die Passagiere auf das Kopfsteinpflaster des Hafens. Die rötliche Morgensonne suchte sich in der Ferne, hinter einigen modernen Glastürmen der Innenstadt, ihren Weg in den Himmel, und ich mir den meinen aus dem verwirrenden Hafengelände heraus. Über die Rue de Lyon ging es dann an diesem kalten Sonntagmorgen Richtung Westen. Der Gegend nach zu urteilen war dies eindeutig eines von Marseilles Problemvierteln. Eingeschlagene Scheiben reifenloser Autos, hässliche Graffitis an heruntergelassenen Wellblechrollläden der Geschäfte und Müll jeglicher Art prägten das Straßenbild. Die Straße war menschenleer und ich froh über mein Timing, denn an einem Werktag wäre es bestimmt nicht so ruhig gewesen. Die einzige Person, der ich begegnete, war ein älterer Mann im Jogginganzug, der zwar optisch gut in die Gegend passte, mich aber lächelnd grüßte, als ich die lange gerade Straße bergauf kroch und ihn langsam überholte. Meine Sorgen, mein Hab und Gut unfreiwillig in Marseille zu lassen, schwanden mit jedem Meter und waren zur Gänze verschwunden, als ich den Gipfel erreichte, die Häuser sichtbar gepflegter wurden und ich auf der anderen Seite des Berges der Stadtgrenze entgegen rollte.
Außerhalb von Marseille
Gnadenloser Wind im schönsten Südfrankreich
Der Großraum Marseille war nach weiteren 30 Kilometern durch hässliches Industriegebiet überwunden und danach stellte sich endlich das Gefühl ein, in Südfrankreich zu sein. Ein alter Aquädukt aus der Römerzeit hier, ein bisschen Weinanbau dort, sowie das Mittelmeer, mal näher, mal ferner, schmückten die Strecke und ich schämte mich ein wenig für meine Befürchtungen von vorher. Die Aussicht war schön, die Straßen gut und die Autofahrer rücksichtsvoll. Nur mit dem Wind hatte mein Reiseführer Recht behalten. Der Mistral wehte mir unbarmherzig aus Südwest ins Gesicht. Nach 75 Kilometern über offenes Feld, die sich wie das Doppelte anfühlten, campte ich in einer pittoresken Kleinstadt auf einem Zeltplatz.
Wasserstrasse
Frankreich steigt in der Radreisebewertung
Das Wetter hatte am nächsten Tag erbarmen und der Wind wehte landeinwärts nur schwach. In einem Ort kaufte ich etwas zu Essen und kam mit einem älteren Herrn ins Gespräch, der sein Zeitungsaustragen unterbrach, mich über meine Radreise ausfragte und dem ich, etwas stolz auf mein anscheinend gar nicht so schlechtes Französisch, einiges darüber erzählen konnte. Nach dieser netten Begegnung fuhr ich weiter über einsame Felder und durch Sumpfgebiete, die sich als typisch für den binnenländischen Teil der Provence herausstellten. An der Küste dominieren kleine, touristische Städtchen. Diese waren für den Fremdenverkehr zwar perfekt, doch deren Establishments zu dieser Jahreszeit größtenteils geschlossen und so war ich gezwungen – zu meiner Freude – wild zu campen und fand nach einigem Suchen und Abwägen eine Lichtung in einem Waldstück. Ich wurde nicht verjagt, schlief ausgesprochen gut und Frankreich stieg weiter in meiner Radreiselandbewertung.
Endlich einen Schlafplatz gefunden.
Windbedingtes Schieben
An der Küste blies der Mistral teilweise so stark, dass ich gezwungen war, mein Rad für längere Abschnitte zu schieben. Das Meer zu meiner Linken schäumte, während gegenüber, im Haff zu meiner Rechten, sich unzählige Flamingos ihre Mahlzeit aus dem ruhigeren Wasser pickten und ihr Gefieder zur Schau trugen. Am Nachmittag erreichte ich, völlig entnervt vom stetigen Ankämpfen gegen den Wind, der dazu noch ordentlich in den Ohren lärmte, Sête, gönnte mir drei Kugeln Eis im Hörnchen und fand außerhalb der Hafenstadt, sichtgeschützt hinter einer Düne, mein zweites, gesetzwidriges Nachtlager – diesmal direkt am Strand. Nachdem ich das Zelt aufgebaut hatte, setzte ich mich erschöpft ans Meer, ließ Blick und Gedanken schweifen, aß eine Kleinigkeit und ging früh schlafen.
Graits Nachtlager direkt am Strand.
Sonnenuntergang außerhalb von Sête.
Frühsport am Morgen vertreibt Kummer...
Der nächste Tag verlief ohne Überraschungen und endete in der Nähe von Narbonne-Plage auf einem Wohnmobilparkplatz, mit Zugang zu Wasser und – für zahlende Kunden – auch Strom. Ich nahm Ersteres dankend an, verzichtete auf Letzteres, baute mein Zelt windgeschützt bei einem großen Busch auf und zahlte auch diese Nacht nichts für meine Unterkunft. Der frühe Morgen war kalt, doch das Aufstehen lohnte, denn über dem Haff ging rot die Sonne auf und ich verspürte endlich mal wieder den Drang nach Frühsport. Meine Beine sind natürlich gut im Training, aber mein Oberkörper könnte mal ein paar sportive Einlagen vertragen.
Frühsport
Anschließend hüpfte ich im nächsten Strandcafé rasch ins Internet und buchte ein Hostel für ein paar Tage in Barcelona. Die katalonische Hauptstadt lag noch rund 300 km entfernt und ich gab mir entspannte fünf Tage für diese Strecke.
Baum am Strassenrand.
Sturm sorgt für Stimmungstief
Der Wind nahm mit voranschreitender Stunde stürmische Züge an, stellte sich mir hart in den Weg und machte die ohnehin schon steinige Straße zur wahren Antifreude.
Solche Straßen und Gegenwind; kein Spaß.
An deren Ende stieß ich auf einen geschlossenen Campingplatz. In der Hoffnung meine Wasservorräte aufzufüllen, umfuhr ich die Schranke und fand bald einen spendenden Schlauch. Von der eigenartigen Szenerie des verlassenen Platzes angetan, schaute ich mich ein wenig um und entdeckte einen kleinen Campinganhänger, der, zu meiner Verwunderung, nicht abgeschlossen und innen sogar recht sauber war. Es gab eine Pritsche zum Schlafen und eine kleine Sitzecke und da es draußen immer windiger wurde, beschloss ich, meinen Platz für die Nacht gefunden zu haben. Ich genoss den Luxus, auf einer Sitzbank an einem Tisch mein Abendessen einzunehmen. Die Nacht war sehr stürmisch und ich dankte Frankreich, das es anscheinend sehr gut mit mir meinte und mir diesen Wagen (kostenlos) zur Verfügung stellte.
Verlassener Wohnwagen. Ein windgeschüzter Schlafplatz.
Endlich eine bitter nötige Dusche
Ich hatte seit einigen Tagen weder eine Dusche genommen noch mich im Spiegel betrachtet und die Blicke der Leute in der kleinen Familienbäckerei, in der ich am folgenden Morgen frühstückte, sprachen Bände. Jedoch nur die Augen, nicht die Nasen und das bedeutete mir, dass es so schlimm nicht sein konnte. Dennoch, rund 50 Kilometer weiter, kam ich an einem Zeltplatz vorbei und überlegte, ob ich nicht bleiben sollte, allerdings war es noch früh und ich hatte noch keine Lust Halt zu machen. Ich fand die Rezeption geschlossen, die Duschen aber geöffnet vor und nahm kurzerhand eine. Anschließend schwang ich mich wieder aufs Rad und verließ – quasi zeche-prellend – den Platz. Wenige Stunden später hatte ich dann keine Lust zu fahren und bog in den letzten Zeltplatz vor der spanischen Grenze ein, wusch Wäsche und Schaltwerk, justierte die quietschende Vorderradbremse und nahm noch eine Dusche.
Schneebedeckte Ausläufer der Pyrenäen.
Zurückgelassene Vorurteile
Als ich am Abend auf die schneebedeckten Ausläufer der Pyrenäen blickte, erinnerte ich mich an meine Befürchtungen vom Anfang. Ich musste nicht nur feststellen, dass keine – bis auf den Wind vielleicht – gerechtfertigt waren, sondern auch, dass Festlandfrankreich eines der besten Länder war, die ich bisher befahren hatte. Dankbar dafür legte ich mich ins Zelt und schlief früh ein, um mich am nächsten Morgen auf den Weg ins vorletzte Land meiner Europatour zu machen: Spanien.