Ein Mann, ein Zelt, ein Fahrrad. Teil 8: Katalanische Katharsis
Jörgs Sinnkrise, kurz vor dem Ende seiner Reise, warf viele Fragen auf. Die Beantwortung dieser Fragen führte zu einer Planänderung.
Die schneebedeckten Spitzen der Pyrenäen leuchteten rötlich an diesem frühen Samstagmorgen. Ich kämpfte mich über deren Ausläufer und, drei Stunden einsame Bergfahrt später, strömten kaffeefahrende Touristen aus Bussen die Einkaufsstraße hinauf und in die Ramschläden, die die Straße zur spanischen Grenze säumten. Ich merkte im letzten Moment, wo ich war, und bremste scharf. Uringeruch stieg mir in die Nase, als ich das obligatorische Foto vom Landeseingangsschild schoss.
Die ersten einschlägigen Kilometer in Spanien
Auf den ersten Kilometern bestimmten schäbige Cafés und ein paar Prostituierte am Straßenrand den ersten Eindruck. Erst nachdem Asphalt und Beton durch Schotter und Bäume abgelöst wurden und ich bei wohligen Grad Celsius über eine von Spaniens schönen Via Verdes fuhr – meist zu Radwegen umfunktionierte Bahntrassen –, wurde es besser. Nahe einem Vogelschutzgebiet schlug ich dann abends in großer Eile auf einem Acker mein Zelt auf, denn die zahlreichen frühnachtaktiven Mücken waren extrem durstig und dreist.
Katalanische Freiheit.
Ich war auf dem Weg zur Küste, welche zwei Tage, zig kleine Dörfer und zwei extrem steile Berge entfernt war. Schieben auf Schotterpisten ist jedes Mal eine Freude und so erreichte ich munter und überhaupt nicht schweißgebadet den Gipfel. Die lohnende Abfahrt ging mal wieder viel zu schnell vorbei und endete in Llorêt de Mar, das ich flott durchfuhr, bevor ich nach einem langen Tag, im und neben dem Sattel, schließlich in Blanes zeltete – gute (Supermond) Nacht.
In Spanien sind die Straßen nicht immer die besten.
Wenn die rote Sonne im Meer versinkt.
Unerwartete 70 Kilometer mehr
Die Tage, von denen ich morgens dachte, sie würden die entspanntesten, waren abends dann die anstrengendsten. Ich radelte durch Calella, wo ich mit Freunden im zarten Alter von 16 meinen bzw. wir unseren ersten und (soweit ich weiß) letzten Saufurlaub verbrachten. Kunstlose 25 km sollten es durch den Ort der schwammigen Erinnerung zum nächsten und letzten geöffneten Campingplatz vor Barcelona sein, aber stattdessen war ich gezwungen, die verbleibenden 70 bis ins Herz der katalanischen Hauptstadt zu fahren. Die angepeilte Ischias-Wiese war geschlossen, Wildcampen an Spaniens Küste aus Platzgründen quasi unmöglich und die kommende Nacht im Hostel bereits doch gebucht und bezahlt. Ich legte also einen rekordverdächtigen Sprint auf den Asphalt der verkehrsreichen und abgasverseuchten Küstenstraße hin und bekam schon mal einen Eindruck von dem, was mich an Iberiens semi-insulaner Wasserkante erwarten würde. Erschöpft erreichte ich gegen 19 Uhr das Hostel, legte mich nach dem Check-in aufs Bett und rechnete: noch genau 2000 km und 40 Tage bis Neujahr in Lissabon.
Spanische Architektur.
Schwere Sinnkrise zu überwinden
Vielleicht war die Rechnung vom Vorabend und das somit konkret gewordene Ende meiner Europareise der Auslöser, vielleicht war es das Unwissen darüber, wie es nach Lissabon weitergehen sollte, vielleicht war es einfach eine solide Metropolendepression. Jedenfalls waren die Tage in Barcelona die schwierigsten der Reise (bisher). Dabei ist die Stadt mit ihren alten und gepflegten Gebäuden, den kleinen Gassen, die sich zwischen den Hauptstraßen schlängeln und gelegentlich von kleinen, palmengesäumten Plätzen unterbrochen werden, eigentlich sehr schön – nur hat sie keine Atmosphäre, weder gut noch schlecht.
Palmengesäumte Plätze in Barcelona.
Mit jedem Kilometer, dem ich zuvor der Großstadt nähergekommen war, war meine innere Unruhe gewachsen. Sie war mir nicht neu, doch ihre Intensität überraschte mich. Barcelona war der Auslöser für Fragen und Konflikte, die schon länger in mir brodelten und auf die keine Reise von selbst Antworten gibt. Das musste ich selber erledigen. Fünf Tage, unzählige Fußkilometer, eine Stadtrundfahrt, viel Nachdenken und etwas Weinen später saß ich wieder im Sattel. Jeder Kilometer, den ich mich von der Großstadt entfernte, erfüllte mich mit Ruhe und Klarheit und allmählich verschwand der Barcelona Blues. (Die Telefonate, die ich führte, haben mir sehr geholfen – danke!)
Das Kolumbusdenkmal in Barcelona.
Der treue Reisebegleiter.
Planänderung
So richtig Freude am Fahren kam auf den vielbefahrenen Straßen Richtung Süden aber nicht auf und nach zwei Tagen entschied ich mich endgültig, den ursprünglichen Plan, die Küste entlangzuradeln, zu verwerfen. Stattdessen wollte ich mein Vorhaben, auf Farmen zu arbeiten, vorziehen und nutzte zwei Regentage auf einem Campingplatz dazu, mich entsprechend neu zu orientieren. Dort traf ich auch Dieter mit seinem alten Mercedes Camper und wir führten einige interessante Gespräche, bei denen auch mein neuer Plan entstand: Per Auto – billiger, schneller und unkomplizierter als Zug – würde ich nach Sevilla reisen, mich nach Höfen umsehen und die gewonnenen Wochen, die ich nicht die verbaute Küste entlanggondeln musste, mit Farmarbeit verbringen, um einen Einblick zu bekommen und weitere Fragen für mich zu beantworten.
Die Planänderung beinhaltet das Leihen eines Autos.